Produktrecht 2026: Der ultimative Leitfaden zu den neuen Urteilen für Ihr Unternehmen
Die aktuelle Rechtslage im Produktrecht gleicht einem Minenfeld strategischer Widersprüche: Während der EuGH im Chemikalienrecht für eine bahnbrechende Entlastung bei Titandioxid sorgt, ziehen nationale Gerichte die Zügel im Wettbewerbs- und Werberecht unerbittlich an. Insbesondere bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln und der Werbung rund um das E-Rezept drohen massive Verschärfungen. Dieser Beitrag analysiert die entscheidenden Urteile und Gesetzesänderungen aus dem vierten Quartal 2025 sowie dem ersten Quartal 2026 und liefert Ihnen konkrete, praxisorientierte Handlungsempfehlungen, um die Compliance Ihres Unternehmens sicherzustellen.
Verpackung und Werbung im Visier der Gerichte: Was Sie jetzt ändern müssen
Jüngste Urteile zwingen Unternehmen, die Gestaltung von Produktverpackungen und Werbeaussagen neu zu bewerten. Um kostspielige Abmahnungen und wettbewerbsrechtliche Verfahren zu vermeiden, müssen Sie umgehend handeln.
Neues Verbot für Nährwertangaben auf der Vorderseite von Lebensmitteln
Eine weitreichende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur unzulässigen Wiederholung von Nährwertangaben bei Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke (FSMP) hat massive Konsequenzen für die gesamte Branche. Das Gericht stellte klar, dass die isolierte Angabe von Nährwerten, wie etwa der Proteingehalt auf der Produktvorderseite, als irreführend gewertet werden kann. Eine solche Wiederholung ist nur zulässig, wenn sie eine bereits erlaubte nährwertbezogene Angabe konkretisiert (z. B. zur Erläuterung des Claims „Hoher Proteingehalt“). Obwohl das Urteil FSMP betraf, ist seine Bedeutung für das allgemeine Lebensmittelrecht immens. Es wird erwartet, dass ein bevorstehendes BGH-Urteil diese strenge Auslegung bestätigen wird. Für Hersteller von Produkten wie High-Protein-Riegeln oder angereicherten Müslis bedeutet dies ein akutes Risiko einer umfassenden Abmahnwelle. Sie sind gezwungen, ihre Verpackungsstrategien, insbesondere das Front-of-Pack-Labeling, dringend zu überprüfen.
Die strikte Grenze zur Medizin: Warum Kosmetika und NEMs keine Arzneimittel sein dürfen
Ein Grundsatzurteil des OLG Dresden hat klargestellt, dass die Verwendung des arzneimittelrechtlichen Warnhinweises „Zu Risiken und Nebenwirkungen…“ für Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel (NEMs) unzulässig und irreführend ist. Juristisch wird dies damit begründet, dass solche Formulierungen eine therapeutische Wirkung vortäuschen („Therapeutisierung“), die diese Produkte nicht besitzen. Dieser Verstoß gegen das Irreführungsverbot nach Art. 20 Abs. 1 der Kosmetik-Verordnung stellt eine nach § 3a UWG unzulässige geschäftliche Handlung dar. Das Urteil unterstreicht die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung zwischen Produktkategorien und verbietet jegliche Werbemethoden, die diese Grenzen verwischen. Generell bleibt die Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten ein juristisches Dauerthema, das ständige Aufmerksamkeit erfordert.
Chemikalien- und Biozidrecht: Zwischen bahnbrechender Entlastung und strenger Kontrolle
Im Chemikalien- und Biozidrecht prägen zwei gegensätzliche, aber gleichermaßen wichtige Entwicklungen die aktuelle Lage: eine juristische Entlastung durch den EuGH und die weiterhin strikte Durchsetzung von Zulassungspflichten durch nationale Gerichte.
Wendepunkt für Titandioxid (TiO2): EuGH kippt Krebseinstufung
In einem wegweisenden Urteil vom 1. August 2025 hat der EuGH die Einstufung von Titandioxid als „vermutlich krebserzeugend beim Einatmen“ (Carc. 2) für nichtig erklärt. Die Annullierung basiert auf der methodischen Kritik, dass die Kommission die Gefahrenklassifizierung auf Grundlage einer nicht intrinsischen Eigenschaft des Stoffes vorgenommen hatte – die Gefahr entsteht nur bei der Inhalation von Staub in bestimmten Partikelgrößen. Das Urteil ist sofort rechtskräftig, wodurch alle damit verbundenen Kennzeichnungspflichten gemäß der CLP-Verordnung aufgehoben sind. Für Unternehmen besteht eine sofortige Compliance-Pflicht: Sie müssen alle Sicherheitsdatenblätter (SDSs) und Produktetiketten aktualisieren, um die Carc. 2-Kennzeichnung umgehend zu entfernen. Diese Entscheidung schafft Rechtsklarheit für unzählige Branchen und bestätigt die hohe Kontrolldichte der Gerichte gegenüber wissenschaftsbasierten Regulierungsakten.
Keine Toleranz bei Bioziden: Die Reichweite der Biozid-Produkt-Verordnung (BPR)
Die Gerichte setzen die strengen Zulassungspflichten für Biozidprodukte gemäß der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 (BPR) weiterhin rigoros durch. Das Inverkehrbringen eines Biozidprodukts ohne die erforderliche Zulassung oder ohne dass der Wirkstofflieferant auf der Liste nach Art. 95 BPR geführt wird, ist wettbewerbswidrig und wird über § 3a UWG sanktioniert. Die Konsequenzen sind gravierend und reichen von hohen Ordnungsgeldern (bis zu 250.000 Euro) bis hin zu Ordnungshaft. Diese Regelung betrifft die gesamte Lieferkette. Insbesondere Importeure und Händler tragen eine hohe Due-Diligence-Pflicht und müssen die Compliance ihrer Lieferanten lückenlos überprüfen. Die zunehmende behördliche Überwachung und neue Meldepflichten signalisieren, dass der Druck in diesem Bereich weiter steigen wird.
Pharma & Medizinprodukte: Kritische Fristen und drohender Marktausschluss
Im Pharma- und Medizinprodukterecht erfordern zeitkritische regulatorische Entwicklungen sofortiges und strategisches Handeln, um den Marktzugang nicht zu gefährden.
Medical Device Regulation (MDR): Der Countdown für Altprodukte läuft
Die Umsetzung der Medical Device Regulation (MDR) tritt in eine kritische Phase. Die Übergangsfristen für sogenannte Legacy Devices der Klassen I, IIa, IIb und III laufen in den Jahren 2025 und 2027 ab. Der größte Engpass im Markt ist die begrenzte Verfügbarkeit von Benannten Stellen, deren Kapazitäten für die notwendigen Zertifizierungen kaum ausreichen. Unternehmen, die den komplexen Zertifizierungsprozess für ihre Altprodukte nicht rechtzeitig abschließen, riskieren die schwerwiegendste Konsequenz: den Marktausschluss für den gesamten europäischen Markt.
Traditionelle pflanzliche Arzneimittel (TPA): Die extrem kurze 3-Monats-Frist
Hersteller von traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln (TPA) stehen vor einer besonders kritischen Frist. Wird ein pflanzlicher Stoff von der EU-Liste der zugelassenen Stoffe gestrichen, hat der Registrierungsinhaber nur drei Monate Zeit, um die notwendigen Unterlagen für den Nachweis der traditionellen Verwendung erneut vorzulegen. Diese extrem kurze Reaktionszeit lässt keinen Spielraum für Verzögerungen. Eine minutiöse und idealerweise automatisierte Überwachung der relevanten EU-Listen ist unerlässlich, um den plötzlichen Verlust der Verkehrsfähigkeit zu vermeiden.
Apotheken- und Tabakrecht: Neue Urteile zu E-Rezept und Werbeverboten
Jüngste Gerichtsentscheidungen verschärfen die Regeln für Marketingstrategien im Apothekenwesen und bestätigen die strikten Werbeverbote für Tabakprodukte und E-Zigaretten.
Verbotene Anreize: Warum Gutscheine für E-Rezepte unzulässig sind
Das OLG Frankfurt a.M. hat Gutscheine, die in Verbindung mit der Einlösung von E-Rezepten angeboten wurden, als unzulässige Werbung gestoppt. Die Entscheidung basiert auf einer Verletzung des Heilmittelwerbegesetzes (HWG). Die juristische Logik ist präzise: Da der Gutschein für den Kauf zusätzlicher, nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel genutzt werden konnte, beeinflusste die Werbung die grundlegende Entscheidung, ob überhaupt (mehr) Arzneimittel gekauft werden – und nicht nur, bei welcher Apotheke das Rezept eingelöst wird. Damit wird dem Versuch, das E-Rezept für aggressive Marketingaktionen zu nutzen, ein klarer Riegel vorgeschoben. Das Urteil verdeutlicht das hohe Abmahnrisiko für Apotheken, die digitale Anreize direkt mit dem Rezeptgeschäft verknüpfen.
Strikte Werbeverbote für Tabak und hohe Hürden für E-Zigaretten
Ein maßgebliches BGH-Urteil hat erneut bestätigt, dass werbende Abbildungen auf der eigenen Homepage eines Tabakherstellers gegen das Werbeverbot des § 19 Abs. 3 TabakerzG verstoßen. Für E-Zigaretten gelten zudem strenge Mitteilungspflichten: Hersteller und Importeure müssen vor dem Inverkehrbringen eine sechsmonatige Stillhaltepflicht einhalten, in der sie die zuständigen Behörden über das Produkt informieren. Wichtig hierbei ist, dass der Importeur eine eigene, kumulative Mitteilungspflicht hat, die nicht durch die Meldung des Herstellers erfüllt wird. Verstöße sind wettbewerbsrechtlich sanktionierbar.
Zusammenfassung der Urteile und strategische Handlungsempfehlungen
Die jüngsten Entwicklungen erfordern eine schnelle Anpassung interner Prozesse. Die folgende Übersicht fasst die wichtigsten Urteile zusammen und leitet eine priorisierte To-Do-Liste für Ihr Unternehmen ab.
Die wichtigsten Urteile im Überblick
| Rechtsgebiet | Kernentscheidung | Strategische Implikation |
| Lebensmittelrecht | Die isolierte Wiederholung von Nährwertangaben auf der Produktvorderseite ist unzulässig und irreführend. | Dringende Überprüfung und Neugestaltung der Verpackungen (Front-of-Pack), um eine Abmahnwelle zu vermeiden. |
| Kosmetikrecht / HWG | Die Verwendung arzneimittelrechtlicher Warnhinweise (z.B. „Zu Risiken und Nebenwirkungen…“) für Kosmetika ist verboten. | Strikte Vermeidung jeder „Therapeutisierung“ von Nicht-Arzneimitteln in Werbung und Kennzeichnung. |
| Chemikalienrecht (CLP) | Die Einstufung von Titandioxid (TiO2) als „vermutlich krebserzeugend“ (Carc. 2) wurde vom EuGH für nichtig erklärt. | Sofortige Pflicht zur Entfernung der Carc. 2-Kennzeichnung aus allen Sicherheitsdatenblättern und von Etiketten. |
| Apothekenrecht (HWG) | Gutscheine oder Boni in Verbindung mit der Einlösung von E-Rezepten sind eine unzulässige Werbemaßnahme. | Verbot von Marketingstrategien, die finanzielle Anreize direkt mit dem Einlösen von Rezepten verknüpfen. |
Ihre To-Do-Liste: Prioritäten für Compliance-Manager
- Produktkennzeichnung revidieren: Überprüfen Sie proaktiv alle Lebensmittelverpackungen auf isolierte Nährwertangaben und entfernen Sie sofort die TiO2-Kennzeichnung von relevanten Produkten. Schulen Sie Ihr Marketing-Team zur Vermeidung arzneimittelähnlicher Werbung.
- Fristenmanagement etablieren: Etablieren Sie einen Notfallplan für die MDR-Übergangsfristen (2025/2027) und eine automatisierte Überwachung der EU-Listen für traditionelle pflanzliche Arzneimittel (TPA) wegen der 3-Monats-Frist.
- Lieferketten-Compliance sicherstellen: Führen Sie eine strikte Due-Diligence-Prüfung für alle importierten Biozidprodukte durch, um die Art. 95-Listung der Lieferanten zu verifizieren. Stellen Sie sicher, dass Importeure von E-Zigaretten die 6-monatige Stillhaltepflicht einhalten.
Ausblick: Das Wettbewerbsrecht als schärfstes Schwert
Die Analyse der aktuellen Rechtslage zeigt eine klare Tendenz: Technische Non-Compliance, wie eine fehlende Zulassung oder eine fehlerhafte Kennzeichnung, wird zunehmend über das Wettbewerbsrecht (UWG) von Mitbewerbern sanktioniert. Das UWG entwickelt sich damit zu einem der effektivsten Überwachungsinstrumente im Markt. Vorausschauend wird die fortlaufende Arbeit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) an der Bewertung gesundheitsbezogener Angaben mittelfristig weitere Anpassungen bei Werbeaussagen erfordern. Für Unternehmen ist juristische Agilität und die Bereitschaft zur sofortigen Reaktion auf neue Urteile kein optionales Extra mehr, sondern ein entscheidender Faktor für den nachhaltigen Markterfolg. Letztlich erfordert die enge Verzahnung von europäischem Spezialrecht und nationalem Wettbewerbsrecht eine lückenlose Compliance-Kette, die vom Rohstofflieferanten über den Hersteller bis zum finalen Marketing am Point of Sale reicht.



