Verpackung als Rechtsfalle: Wie Kennzeichnung über Markterfolg entscheidet
Einleitung: Die schmale Gratwanderung zwischen Marketing und Irreführung
Für Hersteller im Gesundheits- und Lebensmittelsektor ist die Produktverpackung ein zentrales Marketinginstrument. Sie muss am Point of Sale überzeugen und Kaufanreize schaffen. Gleichzeitig unterliegt sie strengen rechtlichen Vorgaben zur Kennzeichnung, die den Verbraucherschutz gewährleisten sollen. Diese Gratwanderung zwischen attraktiver Gestaltung und rechtlicher Compliance birgt erhebliche Risiken. Die zentrale Frage, die sich für jeden Entscheider stellt, lautet: Wann überschreitet eine kreative Verpackungsgestaltung die Grenze zur rechtlich relevanten Verbrauchertäuschung? Die Antwort entscheidet nicht nur über den kurzfristigen Verkaufserfolg, sondern auch über das langfristige Markenvertrauen und die Vermeidung kostspieliger rechtlicher Fallstricke.
Täuschung im Supermarktregal: Der Fall Milka und die Grenzen des Marketings
Darstellung des Fallbeispiels „Milka-Weihnachtsmänner“
Ein aktuelles Beispiel von Milka illustriert, wie gezielt eine Verwechslungsgefahr provoziert werden kann. Der Hersteller platziert zwei optisch sehr ähnliche Schokoladenweihnachtsmänner direkt nebeneinander im Handel. Beide Figuren haben die gleiche Größe, eine vertraute Farbgebung und erwecken den Eindruck, es handle sich lediglich um unterschiedliche Sorten desselben Produkts.
Tatsächlich handelt es sich jedoch um zwei fundamental verschiedene Artikel:
- Ein Weihnachtsmann wiegt 45 g und hat einen Kilopreis von ca. 42 €.
- Der andere, mit Schokolinsen gefüllte Weihnachtsmann, wiegt 61 g bei einem Kilopreis von fast 54 €.
Die Strategie zielt darauf ab, dass gestresste Weihnachtseinkäufer im Glauben, ein vergleichbares Produkt zu erwerben, zum deutlich teureren Artikel greifen. Diese Taktik wird durch die typische Platzierung in unübersichtlichen Displays im Gang verstärkt, wo Kunden spontan zugreifen und Preisschilder oft fehlen oder falsch zugeordnet sind.
Analyse der versteckten Pflichtangaben
Das Kernproblem dieser Vorgehensweise liegt im bewussten Verstecken der rechtlich vorgeschriebenen Pflichtangaben. Die Nettofüllmenge des teureren 61-g-Weihnachtsmannes ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Stattdessen befindet sie sich auf einem aufklappbaren „Leporello-Etikett“ an der Unterseite der Figur. Ein winziger Hinweis deutet an, dass sich darunter weitere Informationen verbergen.
Ein im Video durchgeführter Test belegt die Praxisferne dieser Kennzeichnung: Mehrere Testpersonen konnten die Gewichtsangabe ohne gezielte Anleitung entweder gar nicht oder nur mit erheblichem Aufwand finden. Dies zeigt, dass die gewählte Methode der Kennzeichnung eine massive Verwechslungsgefahr nicht nur in Kauf nimmt, sondern gezielt provoziert.
Die Rechtsgrundlage: Was die Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV) vorschreibt
Erläuterung der relevanten Artikel der LMIV
Die europäische Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV), Verordnung (EU) Nr. 1169/2011, schafft einen klaren rechtlichen Rahmen für die Kennzeichnung von Lebensmitteln. Zwei Artikel sind im Fall Milka von zentraler Bedeutung:
- Artikel 9 LMIV: Dieser Artikel schreibt die Angabe der Nettofüllmenge als eine der verpflichtenden Informationen auf vorverpackten Lebensmitteln vor. Das Weglassen ist ein klarer Rechtsverstoß.
- Artikel 13 LMIV: Dieser Artikel definiert, wie Pflichtinformationen anzubringen sind. Sie müssen an einer „gut sichtbaren Stelle deutlich, gut lesbar und gegebenenfalls dauerhaft“ angebracht sein. Entscheidend ist der Zusatz: Sie dürfen „in keiner Weise durch andere Angaben oder Bildzeichen oder sonstiges eingefügtes Material verdeckt, undeutlich gemacht oder getrennt werden“.
In der rechtlichen Würdigung des Falles ist festzustellen: Zwar ist die Pflichtangabe nach Art. 9 LMIV formal vorhanden. Jedoch verstößt die Art ihrer Anbringung offenkundig gegen die kumulativen Anforderungen des Art. 13 LMIV. Die Angabe ist durch das Leporello-Etikett „verdeckt“ und damit für den durchschnittlichen Verbraucher in der konkreten Kaufsituation weder „gut sichtbar“ noch „deutlich“ wahrnehmbar. Diese Form der Kennzeichnung ist somit als rechtswidrig einzustufen.
Bewertung von mehrseitigen Etiketten durch Sachverständige
Da die LMIV nicht jeden Einzelfall exakt beschreibt, bewerten Fachgremien wie der Arbeitskreis lebensmittelschemischer Sachverständiger (ALS) solche Fälle. In einer Stellungnahme aus dem Jahr 2019 kam der ALS zu dem Ergebnis, dass mehrseitige Etiketten wie Leporellos nur bei tatsächlichem Platzmangel zulässig sind. Sie sind als Notlösung für sehr kleine Verpackungen gedacht, bei denen eine vollständige Etikettierung anders nicht möglich wäre.
Diese Ausnahme trifft auf den Milka-Weihnachtsmann eindeutig nicht zu. Die Aluminiumfolie bietet mehr als genug Platz für einen gut sichtbaren Aufdruck. Den Beweis dafür liefert Milka selbst: Ein zeitgleich angebotener Milka-Schneemann mit nahezu identischem Etikett trägt die Füllmengenangabe gut lesbar aufgedruckt. Aus juristischer Sicht ist die Verwendung des Leporello-Etiketts hier kaum als technisch notwendig zu rechtfertigen. Vielmehr drängt sich der Schluss auf, dass es sich um eine strategische Entscheidung handelt, um die Preisdifferenzierung zu verschleiern – ein Umstand, der in einem Rechtsstreit schwer wiegen würde.
Verbrauchermisstrauen und Klagerisiko: Die wirtschaftlichen Folgen von Intransparenz
Strategien, die an der Grenze zur rechtlichen Zulässigkeit operieren, untergraben das Vertrauen der Verbraucher massiv. Jegliche Form der wahrgenommenen Intransparenz – sei es bei der Füllmenge, wie im Fall Milka, oder bei den Zutaten, wie die Göttinger Studie zeigt – nährt das generelle Misstrauen der Verbraucher und erodiert das Markenkapital.
Das Misstrauen der Verbraucher als wirtschaftliches Risiko
Dieses grundlegende Misstrauen zeigt sich nicht nur bei der Füllmenge, sondern, wie eine alarmierende Studie der Universität Göttingen aus dem Jahr 2017 belegt, insbesondere im Bereich der Zutatenkennzeichnung:
- 84,3 % der Verbraucher glauben, dass Verpackungen Lebensmittel besser darstellen, als sie sind.
- Das Vertrauen in Lebensmittelhersteller ist extrem niedrig und sank von bereits geringen 12,9 % im Jahr 2012 auf nur noch 10,1 % im Jahr 2017.
- Selbst wenn kein Hinweis auf zugesetzte Aromen vorhanden ist, vermuten ca. 75 % der Verbraucher, dass welche enthalten sind.
Diese Zahlen belegen ein tiefgreifendes Misstrauen. Jede unklare oder als irreführend empfundene Kennzeichnung verstärkt diese Haltung und gefährdet direkt die Markenreputation – ein kaum zu beziffernder wirtschaftlicher Schaden.
Von der Mogelpackung zur Klage
Das wachsende Misstrauen führt zu konkreten rechtlichen Konsequenzen. Die Verbraucherzentrale Hamburg führt eine öffentliche Liste mit über 1.000 „Mogelpackungen“. Gegen Mondelez wurde kürzlich eine Klage beim Landgericht Bremen eingereicht, weil der Inhalt von Milka-Schokoladentafeln bei gleichbleibender Verpackungsgröße von 100 g auf 90 g reduziert wurde.
Die Forderung der Verbraucherschützer ist unmissverständlich: Wer den Inhalt reduziert, muss dies durch klare und unübersehbare Hinweise auf der Verpackung kenntlich machen. Der Handlungsdruck auf Hersteller, transparent zu agieren, steigt damit nicht nur moralisch, sondern auch juristisch.
Fazit und strategische Empfehlungen
Der Fall Milka zeigt exemplarisch, dass eine rein marketinggetriebene Verpackungsgestaltung ohne sorgfältige rechtliche Prüfung schnell zur Haftungsfalle werden kann. Die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, insbesondere der Lebensmittelinformationsverordnung, ist keine lästige Pflicht, sondern eine strategische Notwendigkeit. Sie schützt nicht nur vor Abmahnungen, Bußgeldern und Klagen, sondern ist die Grundlage für das Vertrauen der Verbraucher und damit für den langfristigen Erfolg einer Marke.
Leitlinien für eine rechtssichere Verpackungsgestaltung
- Sichtbarkeit vor Ästhetik bei Pflichtangaben: Betonen Sie, dass der Fall Milka zeigt, dass kreative, aber unpraktische Lösungen für Pflichtangaben (wie das Leporello-Etikett) als bewusste Verschleierung gewertet werden können. Die rechtliche Anforderung der „guten Sichtbarkeit“ muss im Designprozess oberste Priorität haben.
- Inhaltsänderungen als Kommunikationsanlass begreifen: Die Klage gegen Mondelez wegen „Shrinkflation“ belegt, dass eine passive Kennzeichnung nicht ausreicht. Raten Sie Herstellern, Inhaltsreduktionen proaktiv und unübersehbar auf der Schauseite zu kommunizieren, um dem Vorwurf der Täuschung vorzubeugen und Vertrauen zu sichern.
- „Stresstests“ für Kennzeichnungen durchführen: Leiten Sie aus dem im Video gezeigten Test ab, dass interne juristische Prüfungen nicht ausreichen. Empfehlen Sie, die Lesbarkeit und Auffindbarkeit von Pflichtangaben mit unvoreingenommenen Testpersonen unter simulierten Einkaufsbedingungen (Eile, schlechtes Licht) zu überprüfen.
Um Verpackungen und Kennzeichnungen von der ersten Design-Idee bis zum Point of Sale rechtssicher zu gestalten, ist eine hochspezialisierte Rechtsberatung in den Bereichen Lebensmittel-, Kosmetik- und allgemeinem Produktrecht unerlässlich. Nur so lassen sich kostspielige Auseinandersetzungen vermeiden und das Markenkapital nachhaltig schützen.
FAQ – Häufig gestellte Fragen zur Lebensmittelkennzeichnung
Darf ein Hersteller das Gewicht eines Produkts auf der Verpackung verstecken?
Nein, laut der Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV) müssen Pflichtangaben wie die Nettofüllmenge an einer gut sichtbaren Stelle deutlich und unverdeckt lesbar sein. Versteckt ein Hersteller diese Angabe, etwa unter einem aufgeklebten Falz am Boden wie beim Milka-Weihnachtsmann, stellt dies einen Rechtsverstoß dar, der von Verbraucherzentralen abgemahnt wird.
Was versteht man unter „Mogelpackungen“ wie bei den Milka-Schokoladentafeln?
Bei Mogelpackungen wird die Füllmenge reduziert (z. B. von 100g auf 90g), während die Verpackungsgröße und der Preis gleich bleiben oder sogar steigen. Verbraucherschützer kritisieren dies als Täuschung, wenn der Hinweis auf das geringere Gewicht nur klein und leicht übersehbar aufgedruckt ist, und fordern Warnhinweise sowie angepasste Packungsgrößen.
Warum enthalten Produkte oft Aromen statt der abgebildeten Früchte?
Viele Produkte nutzen Aromen für den Geschmack, da echte Zutaten oft nur in minimalen Mengen („Alibizutaten“) enthalten sind. Studien zeigen, dass Verbraucher Begriffe wie „natürliches Aroma“ oft missverstehen und echte Früchte erwarten. Eine deutlichere Kennzeichnung wie „mit Geschmack“ oder „Typ“ könnte das subjektive Täuschungsempfinden der Konsumenten hier deutlich senken.
Welche Informationen müssen zwingend auf einer Lebensmittelverpackung stehen?
Die EU-Verordnung 1169/2011 schreibt unter anderem die Bezeichnung des Lebensmittels, das Zutatenverzeichnis, Allergenhinweise, die Nettofüllmenge sowie das Mindesthaltbarkeitsdatum vor. Diese Angaben müssen gut sichtbar und in einer Mindestschriftgröße von 1,2 mm (bezogen auf das kleine „x“) aufgedruckt sein, um eine fundierte Kaufentscheidung zu ermöglichen.
An wen kann ich mich wenden, wenn ich eine Kennzeichnung als irreführend empfinde?
Verbraucher können Beschwerden an die lokalen Lebensmittelüberwachungsämter oder Verbraucherzentralen richten. Die Behörden sind verpflichtet, Hinweisen auf Verstöße gegen Kennzeichnungs- oder Sicherheitsvorschriften nachzugehen. Bei festgestellten Rechtsverstößen können Produkte beanstandet, vom Markt genommen oder Bußgelder verhängt werden; Verbraucherzentralen gehen zudem zivilrechtlich gegen Hersteller vor.




