BGH-Vorlage an EuGH: Wann haften Händler für Hersteller-Werbung bei Kosmetik?
Jeder Kosmetikhändler in der EU operiert derzeit mit einem erheblichen, undefinierten Rechtsrisiko in seinem Marketing. Ein neuer Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 18. Juni 2025 (Az. I ZR 78/24) hat dieses Problem nun ins Zentrum gerückt und zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verwiesen. Dessen Entscheidung wird die Haftungsregeln für die Nutzung von Herstellerwerbung neu definieren und stellt die Kernfrage in den Raum: Inwieweit sind Händler für Werbeaussagen verantwortlich, die sie unverändert vom Hersteller übernehmen? Die Analyse des Falls zeigt die strategischen Weichenstellungen, die jetzt anstehen.
——————————————————————————–
1. Der Fall im Fokus: Die „Zellerneuerung“ durch Ginseng-Creme
Das Verständnis des konkreten Sachverhalts ist entscheidend, um die abstrakten Rechtsfragen und die daraus resultierenden Geschäftsrisiken zu erfassen. Der Fall verdeutlicht eine alltägliche Praxis im Handel, die nun auf dem juristischen Prüfstand steht: die Übernahme von Hersteller-Werbematerial für eigene Marketingzwecke.
Im Kern des Rechtsstreits stehen die folgenden Elemente:
- Kläger: Der Verband Sozialer Wettbewerb e. V.
- Beklagte: Ein Reformhaus, das als Händler agiert.
- Produkt: Die Gesichtscreme „A. L. R. Tag & Nachtpflege“.
- Werbeaussage: Die Behauptung „Ginseng fördert die Zellerneuerung und schützt vor freien Radikalen“, die in einem Werbeprospekt des Reformhauses verwendet wurde.
- Ursprung der Aussage: Die Werbeaussage wurde direkt von der Herstellerin (Streithelferin) zur Verfügung gestellt und fand sich auch auf der Produktverpackung.
- Kern des Vorwurfs: Die beworbene Wirkung der „Förderung der Zellerneuerung“ wurde als irreführend und wissenschaftlich nicht hinreichend belegt eingestuft, was einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 1 der EU-Kosmetikverordnung darstellt.
Aus diesem Sachverhalt leitet der BGH zwei entscheidende juristische Fragen ab, die nun dem EuGH zur Klärung vorliegen.
——————————————————————————–
2. Zwei entscheidende Fragen an den EuGH: Die Prüfungspflicht des Händlers im Detail
Die vom BGH formulierten Vorlagefragen sind das Herzstück der aktuellen Rechtsunsicherheit. Die Antworten des EuGH werden die Spielregeln für die Marketing-Compliance im gesamten EU-Handel neu definieren.
2.1. Vorlagefrage 1: Besteht eine generelle Prüfungspflicht für Händler?
Die Kernfrage lautet: Muss ein Händler, der nicht die „verantwortliche Person“ ist, eine vom Hersteller überlassene Werbeaussage aktiv auf ihre Richtigkeit und Belegbarkeit überprüfen, bevor er sie für eigene Zwecke nutzt?
Der BGH wägt hierzu zwei gegensätzliche Argumentationslinien ab:
- Argument FÜR eine Prüfungspflicht: Der Händler nutzt die Werbung zur Förderung seiner eigenen geschäftlichen Zwecke und hat somit Einfluss auf seine Werbemaßnahmen. Ein hohes Verbraucherschutzniveau (Erwägungsgrund 51 der Kosmetik-VO) spricht dafür, dass auch der Händler in der Verantwortung steht.
- Argument GEGEN eine generelle Prüfungspflicht: Die EU-Kosmetikverordnung weist die primäre Verantwortung und die Pflicht zur Dokumentation von Wirkungsnachweisen (in der sogenannten Produktinformationsdatei gemäß Art. 11) klar dem Hersteller als „verantwortliche Person“ zu. Der Händler hat auf diese Unterlagen in der Regel keinen direkten Einblick, da die Produktinformationsdatei laut Art. 11 Abs. 3 der Verordnung primär für die zuständige Behörde zur Marktüberwachung zugänglich sein muss. Er darf sich daher grundsätzlich auf die Angaben des Herstellers verlassen. Der BGH signalisiert jedoch deutlich, dass sich dies ändert, sobald ein Händler einen „konkreten Anhaltspunkt“ für ein Problem erhält – insbesondere hebt er hervor, dass eine Abmahnung eine solche sofortige Prüfungspflicht auslösen könnte.
2.2. Vorlagefrage 2: Verdrängt die Kosmetik-Verordnung das allgemeine Wettbewerbsrecht?
Die zweite Frage stellt eine einfache, aber tiefgreifende Weiche: Fungieren die hochspezifischen Regeln der Kosmetik-Verordnung als eine Art „juristischer Schutzschild“, der Händler vor den weitaus breiteren und strengeren allgemeinen Gesetzen gegen unlauteren Wettbewerb schützt? Oder müssen Händler beide Regelwerke einhalten?
- Wenn die Kosmetik-Verordnung Vorrang hat (gemäß Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG), könnte ein Händler von einer Haftung nach dem allgemeineren Wettbewerbsrecht (z. B. § 5 UWG in Deutschland) befreit sein, selbst wenn die Werbung objektiv irreführend ist.
- Der BGH selbst scheint der Ansicht zuzuneigen, dass die Kosmetik-Verordnung ein umfassendes und abschließendes Regelwerk ist, was darauf hindeutet, dass eine separate Haftung nach allgemeinem Wettbewerbsrecht tatsächlich ausgeschlossen sein könnte.
Die Beantwortung dieser juristischen Feinheiten hat unmittelbare Konsequenzen für das Tagesgeschäft und die Risikostrategie von Händlern.
——————————————————————————–
3. Strategische Implikationen: Was das Urteil für Ihr B2B-Geschäft bedeutet
Diese Rechtstheorie übersetzt sich direkt in operationelle Risiken und finanzielle Belastungen. Für den modernen B2B-Entscheider ist die Entscheidung des EuGH kein abstraktes juristisches Ereignis; sie ist ein strategischer Wendepunkt, der den Marketing-ROI, die Beziehungen in der Lieferkette und die Markenreputation direkt beeinflussen wird. Abmahnungen, Verkaufsstopps und Reputationsschäden sind die realen Kosten des Abwartens.
Die Entscheidung wird eines von drei grundlegenden Szenarien für die Zukunft der Händlerhaftung festlegen:
- Szenario A: Der EuGH bejaht eine umfassende Prüfungspflicht.
- Konsequenz: Händler müssen proaktiv Nachweise für Werbeversprechen von Herstellern anfordern und bewerten. Das bloße Übernehmen von Werbematerial wird zu einem erheblichen Haftungsrisiko. Marketingprozesse müssen angepasst und rechtlich abgesichert werden. Dies ist ein kritischer Stresstest für Ihre Lieferantenverträge.
- Szenario B: Der EuGH verneint eine generelle Prüfungspflicht (Haftung nur bei konkreten Anhaltspunkten).
- Konsequenz: Das Haftungsrisiko wäre geringer, aber nicht eliminiert. Händler müssten bei jedem Anzeichen von Unstimmigkeiten (z.B. nach einer Abmahnung) sofort handeln und die Werbung stoppen. Die Definition von „konkreten Anhaltspunkten“ würde zur neuen Grauzone.
- Szenario C: Der EuGH entscheidet, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht anwendbar bleibt.
- Konsequenz: Die Haftung des Händlers für irreführende Werbung würde bestehen bleiben, unabhängig von den speziellen Regeln der Kosmetik-Verordnung. Dies würde den Status quo der geteilten Verantwortung zementieren und die bestehende Abmahnpraxis bestätigen.
Der strategische Schluss ist klar: Es ist unerlässlich, trotz der Unsicherheit proaktive Maßnahmen zu ergreifen, um Ihr Marketing zukunftssicher zu machen.
——————————————————————————–
4. Fazit und Handlungsempfehlung: So minimieren Sie Ihr Risiko jetzt
Die Vorlage des BGH schafft ein Fenster strategischer Möglichkeiten. Während Wettbewerber passiv auf das Urteil des EuGH warten, können proaktive Unternehmen diese Phase der Unsicherheit nutzen, um ein widerstandsfähigeres Compliance-Framework aufzubauen und sich einen Wettbewerbsvorteil zu sichern.
Wir empfehlen die Umsetzung der folgenden drei Schritte:
- Lieferantenverträge prüfen: Sichern Sie sich vertraglich ab. Integrieren Sie Klauseln, die den Hersteller zur Bereitstellung von Wirkungsnachweisen verpflichten und klare Freistellungsregelungen für den Fall von Abmahnungen aufgrund von Herstellerangaben enthalten.
- Marketingmaterial kritisch hinterfragen: Schulen Sie Ihre Marketing- und Einkaufsteams, besonders plakative oder wissenschaftlich anmutende Werbeaussagen („Health Claims“) kritisch zu bewerten, bevor sie in eigenen Kanälen (Prospekte, Onlineshops, Social Media) eingesetzt werden.
- „Red Flag“-Protokoll für Abmahnungen etablieren: Der BGH deutet explizit an, dass der Erhalt einer formellen Beschwerde oder Abmahnung eine sofortige rechtliche Pflicht zur Überprüfung von Herstellerangaben auslösen kann. Ihr Prozess muss sicherstellen, dass bei Eingang einer solchen Mitteilung alle zugehörigen Werbemaßnahmen sofort pausiert und das Produkt einer rechtlichen Prüfung unterzogen wird. Dies ist nicht länger nur eine bewährte Praxis; es ist eine direkte Reaktion auf einen wahrscheinlichen zukünftigen Haftungsauslöser.



