Alkoholfreier Gin: Warum die Bezeichnung in der EU verboten ist und was Hersteller jetzt wissen müssen
Einleitung: Der Boom der 0,0%-Alternativen trifft auf strenges EU-Recht
Der Markt für alkoholfreie Spirituosenalternativen boomt. Angetrieben durch einen Wandel im Konsumverhalten hin zu einem bewussteren und gesünderen Lebensstil, steigt die Nachfrage nach 0,0%-Produkten, die den komplexen Geschmack traditioneller Spirituosen ohne den Alkohol bieten. Dieser wirtschaftliche Trend trifft jedoch auf einen starren juristischen Rahmen: die strengen Kennzeichnungsvorschriften für Spirituosen in der Europäischen Union. Dies führt zu einem zentralen Konflikt für Hersteller und Vermarkter. Die Kernfrage lautet: Warum darf ein Getränk, das wie Gin schmeckt, riecht und oft auch so hergestellt wird – nur eben ohne Alkohol – rechtlich nicht als „alkoholfreier Gin“ bezeichnet werden? Für Hersteller, Importeure und Händler im B2B-Sektor ist die Antwort auf diese Frage von entscheidender strategischer Bedeutung, da sie direkte Auswirkungen auf Branding, Marketing und letztlich die Marktfähigkeit ihrer Produkte hat. Die folgende Analyse schlüsselt die rechtlichen Grundlagen auf und zeigt, warum ein Ignorieren dieser Vorschriften für Unternehmen im B2B-Sektor existenzbedrohende Risiken birgt.
Die rechtliche Festung: Warum Bezeichnungen wie Gin in der EU absolut geschützt sind
Die Verordnung (EU) 2019/787, oft als Spirituosenverordnung bezeichnet, ist das zentrale Regelwerk, das den europäischen Spirituosenmarkt steuert. Ihre Funktion geht weit über rein technische Spezifikationen hinaus. Sie dient primär drei übergeordneten Zielen: dem Schutz der Verbraucher vor irreführenden Angaben, der Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs zwischen den Herstellern und dem Schutz des hohen Ansehens, das EU-Spirituosen weltweit genießen. Diese Verordnung schafft eine juristische Festung um traditionelle Spirituosenbezeichnungen, die auf präzisen und unverhandelbaren Kriterien beruht.
Die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat die Stärke dieser Festung zementiert. Durch den formalistischen Ansatz, der jegliche qualifizierende Zusätze wie „alkoholfrei“ kategorisch ablehnt, hebt der EuGH den Schutz des rechtlichen Namens „Gin“ auf ein Niveau, das funktionell dem absoluten Schutz der strengsten geografischen Angaben (g. A.) wie Champagner oder Parmesan entspricht. Diese Einordnung signalisiert eine Null-Toleranz-Politik gegenüber jeder Form der begrifflichen Anlehnung.
Was eine Spirituose rechtlich definiert: Die EU-Verordnung 2019/787 im Detail
Um eine geschützte Spirituosenbezeichnung wie „Gin“, „Rum“ oder „Whisky“ tragen zu dürfen, muss ein Produkt die fundamentalen Anforderungen der Verordnung (EU) 2019/787 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Kennzeichnung von Spirituosen erfüllen. Die wichtigsten Kriterien sind:
- Das Erzeugnis muss die wesentlichen Anforderungen der jeweiligen Produktkategorie erfüllen, die in Anhang I der Verordnung detailliert beschrieben sind.
- Für die Herstellung des Getränks muss zwingend Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs verwendet werden.
Für die Kategorie Gin legt Anhang I, Punkt 20, der Verordnung die folgenden obligatorischen Merkmale fest, die ein Produkt erfüllen muss, um als „Gin“ bezeichnet werden zu dürfen:
- Herstellung: Gin muss durch die Aromatisierung von Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs mit Wacholderbeeren (Juniperus communis L.) hergestellt werden.
- Geschmack: Der Geschmack muss vorwiegend nach Wacholder sein.
- Mindestalkoholgehalt: Das finale Produkt muss einen Mindestalkoholgehalt von 37,5 % vol. aufweisen.
Diese Definition ist nicht verhandelbar. Insbesondere der Mindestalkoholgehalt ist eine absolute und unumgängliche Voraussetzung.
Der absolute Schutz: Keine Ausnahmen für alkoholfreie Varianten
Aus den strengen Definitionskriterien leitet sich eine klare rechtliche Konsequenz ab: Der Schutz der Bezeichnung „Gin“ ist absolut. Ein Getränk, das den Mindestalkoholgehalt von 37,5 % vol. nicht erreicht, ist per definitionem kein Gin – unabhängig von seinem Geschmack oder Herstellungsprozess.
Artikel 10(7) der Verordnung fungiert hier als unmissverständliche Barriere. Er verbietet explizit die Nutzung einer geschützten Bezeichnung für ein nicht-konformes Produkt und verhindert damit gezielt, dass sich Hersteller den Ruf einer etablierten Kategorie „leihen“, ohne deren strenge, qualitätssichernde Auflagen zu erfüllen. Die Hinzufügung von beschreibenden oder fantasievollen Zusätzen wie „alkoholfrei“ oder „0,0 %“ heilt diesen Mangel nicht. Wie die EU-Kommission in ihren Leitlinien (2022/C 78/03) klarstellt, gilt dieses Verbot explizit auch für Fantasienamen wie „VirGin“ oder „Ginfection“. Genau diese unmissverständliche Rechtslage bildet die Grundlage für die jüngste richtungsweisende Gerichtsentscheidung auf europäischer Ebene.
Das EuGH-Urteil C-563/24: Das endgültige Aus für „alkoholfreien Gin“
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 13. November 2025 in der Rechtssache C-563/24 markiert einen Wendepunkt für den Markt der alkoholfreien Spirituosenalternativen. Es schafft endgültige Rechtsklarheit und bestätigt die strikte Auslegung der Spirituosenverordnung durch die europäischen Institutionen. Die Entscheidung ist von hoher strategischer Relevanz, da sie die Leitplanken für die Vermarktung dieser wachsenden Produktkategorie für die gesamte EU verbindlich festlegt.
Die Urteilsbegründung: Verbraucherschutz und fairer Wettbewerb im Fokus
In seiner Urteilsbegründung wies der EuGH die Argumente für eine flexiblere Auslegung zurück und erklärte die bestehenden Beschränkungen für verhältnismäßig und notwendig. Die zentralen Argumente des Gerichts waren:
- Schutz der Verbraucher: Die Bezeichnung „Gin“ erweckt bei Verbrauchern eine klare Erwartungshaltung bezüglich der Zusammensetzung, des Geschmacks und vor allem des Alkoholgehalts. Ein alkoholfreies Produkt kann diese Erwartung naturgemäß nicht erfüllen. Die Verwendung des Begriffs wäre daher fundamental irreführend, selbst mit dem Zusatz „alkoholfrei“.
- Fairer Wettbewerb: Die strengen Regeln schützen traditionelle Hersteller, die erhebliche Investitionen in aufwendige und regulierte Herstellungsprozesse tätigen, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Eine Verwässerung der geschützten Bezeichnungen würde diesen Wettbewerb untergraben.
- Schutz des Ansehens: Die Integrität und der hohe Qualitätsstandard, die mit EU-Spirituosen wie Gin assoziiert werden, werden durch die strikte Regelung verteidigt und geschützt.
- Keine Verletzung der unternehmerischen Freiheit: Der EuGH stellte unmissverständlich klar, dass die Einschränkung sich ausschließlich auf die Verwendung des rechtlichen Namens bezieht, nicht jedoch auf die Herstellung oder den Verkauf von wacholderaromatisierten, alkoholfreien Getränken. Das Gericht differenzierte präzise zwischen dem Produkt an sich und dem Namen des Produkts. Die unternehmerische Freiheit, innovative Produkte zu entwickeln, bleibt unangetastet, solange sie unter einer rechtskonformen Bezeichnung vermarktet werden.
Die weitreichenden Folgen: Was das Urteil für die Praxis bedeutet
Das Urteil hat direkte und weitreichende strategische Implikationen für alle Akteure im B2B-Markt, von der Produktion bis zum Vertrieb.
- Für Hersteller alkoholfreier Getränke: Es besteht unmittelbarer Handlungsbedarf. Branding, Etikettierung und sämtliche Marketingmaterialien müssen überprüft und angepasst werden. Begriffe wie „Gin 0.0%“, „Alkoholfreier Gin“ oder kreative Umschreibungen wie „Virgin Gin“ sind unzulässig und bergen ein hohes rechtliches und finanzielles Risiko durch Abmahnungen, behördliche Maßnahmen oder den Rückruf von Produkten.
- Für Importeure und Großhändler: Diese Akteure tragen eine spezifische Verantwortung in der Lieferkette. Importeure riskieren, dass falsch deklarierte Ware bereits an der EU-Außengrenze vom Zoll gestoppt wird. Großhändler und Distributoren haften für die von ihnen erstellten Marketing- und Vertriebsmaterialien und müssen sicherstellen, dass ihre Lieferverträge und Vereinbarungen mit dem Einzelhandel die rechtskonforme Bezeichnung der Produkte widerspiegeln, um Regressansprüche zu vermeiden.
- Für Einzelhandel und Gastronomie: Die Verantwortung endet nicht beim Lieferanten. Das Bewerben von Produkten unter irreführenden Namen, sei es auf Getränkekarten, in Online-Shops oder auf Regalschildern, kann ebenfalls als Verstoß gegen Kennzeichnungsregeln oder als unlautere Geschäftspraktik gewertet werden. Händler und Gastronomen müssen sicherstellen, dass ihre eigenen Produktbeschreibungen rechtskonform sind.
- Für traditionelle Destillerien: Für sie ist das Urteil eine Bestätigung und ein Sieg für den Schutz ihres Handwerks. Es festigt den Status ihrer Produktbezeichnungen und stellt sicher, dass der Wert ihrer Marken und die über Jahre aufgebaute Reputation nicht durch Nachahmungen untergraben werden, die die fundamentalen Kriterien nicht erfüllen.
Das Urteil zwingt die Branche der alkoholfreien Alternativen, neue und kreative Wege in der Produktvermarktung zu gehen.
Rechtskonforme Vermarktung: Strategien für den 0,0%-Markt
Das EuGH-Urteil ist kein Geschäftsverbot für wacholderbasierte, alkoholfreie Getränke, sondern ein klarer Auftrag zu mehr Kreativität und juristischer Sauberkeit in der Markenstrategie. Anstatt sich an geschützte Begriffe anzulehnen, müssen Hersteller nun den Aufbau starker, eigenständiger Marken in den Vordergrund stellen, die für sich selbst stehen und eine eigene Identität schaffen.
Zulässige Bezeichnungen und kreative Alternativen
Um rechtliche Risiken zu vermeiden und gleichzeitig Verbraucher transparent zu informieren, stehen Herstellern mehrere strategische Optionen zur Verfügung:
- Beschreibende Namen: Diese Option ist rechtlich sicher und transparent. Das Produkt wird klar und sachlich beschrieben, ohne geschützte Begriffe zu verwenden. Ein Beispiel wäre:
- Fantasienamen: Durch die Kreation völlig neuer, einzigartiger Produktnamen können Unternehmen eine starke, wiedererkennbare Markenidentität aufbauen. Diese Namen erzeugen keine rechtlichen Konflikte, da sie sich nicht an bestehende Spirituosenkategorien anlehnen, und ermöglichen eine kreative und differenzierte Positionierung am Markt.
- Fokus auf Markenbildung: Unabhängig von der Namensgebung ist der Aufbau einer starken visuellen Identität entscheidend. Einzigartige Logos, einprägsame Flaschendesigns und eine konsistente visuelle Gestaltung (der sogenannte Trade Dress) schaffen einen hohen Wiedererkennungswert. Eine starke Marke funktioniert unabhängig von der Produktkategorie und baut direktes Vertrauen beim Verbraucher auf.
Fazit: Radikale Klarheit als Schlüssel zum Erfolg
Die Rechtslage ist unmissverständlich: Die Bezeichnung „Gin“ und davon abgeleitete Begriffe sind für alkoholfreie Getränke in der EU tabu. Das jüngste EuGH-Urteil hat letzte Zweifel beseitigt und unterstreicht den absoluten Schutz traditioneller Spirituosenbezeichnungen. Für Unternehmen im wachsenden 0,0%-Markt ist dies jedoch kein Rückschlag, sondern eine Chance, sich durch strategische Exzellenz vom Wettbewerb abzuheben.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in radikaler Klarheit. Eine konsistente Ausrichtung von Produktdaten, Etiketten und Werbemitteln, gepaart mit transparenten, beschreibenden oder kreativen, eigenständigen Namen, minimiert nicht nur das rechtliche Risiko, sondern stärkt auch das Vertrauen der Verbraucher. In diesem dynamischen Umfeld ist juristische Konformität kein defensiver Kostenfaktor, sondern ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Eine proaktive Rechtsberatung ist daher keine Option, sondern eine essenzielle Investition, um Marktführerschaft zu sichern und langfristiges Markenkapital im umkämpften 0,0%-Sektor aufzubauen.




